Ripple, das sind kleine Wellen auf der Wasseroberfläche. Warum ich das weiß, weil ich bei meiner Vorbereitung auf die Projekte in 2025 plötzlich abgeschweift bin, plötzlich in meinen Newsletter-Ordner abgebogen war und dort aus irgendwelchen Gründen die Mail „Best of Impactful Podcasts 2024 and 2 more“ anklicken musste. Extra spannend, weil es dort um narrative Podcasts geht, „story driven“. Die spannende Frage: wie viele kenne ich wohl? Meine Selbsteinschätzung: wäre schön, wenn ich die Hälfte der Bestenliste vom Namen her gehört hätte, und dann ein Drittel davon schon einmal richtig mit Kopfhörern.
Also klicke ich….
- “Best of” List Contents (listed in order of release month)
- Ripple
- HUMO: Murder & Silence in El Salvador
- Inheriting
- White Picket Fence
- Scene on Radio: Capitalism
- Tested
- Master Plan
- Race to the Bottom
- The Tenant Association
- Empire City: The Untold Origin Story of the NYPD
- Rebel Spirit
- Homeland
…und seufze.
Von den erste 10 Listen-Einträgen kenne ich genau: null. Autsch.
Nr. 11 ist Rebel Spirit, da habe ich zumindest schon einmal reingehört. 1 von 12 – Das schmerzt und das darf nicht so bleiben.
Kurz vor meiner Prokrastiniertour wollte ich eigentlich zwei längere Geschichten vorbereiten, WDR 5-Zeitzeichen, eines über den Stoiker Marc Aurel (März), und das zweite über eine der größten Umweltkatastrophen der Menschheit, die sich zum 20. April jährt. An diesem 20.04.2010 explodiert die Ölplattform Deepwater Horizon. Monatelang kann das Bohrloch nicht verschlossen werden, Millionen Barrel Öl strömen aus, verseuchen den Golf von Mexiko.
Also lass ich mein Projekt ruhen und will zumindest den Listenersten checken, Ripple. Das Key-Visual kann ich zu dem Zeitpunkt nicht ganz deuten. Sieht für mich aus wie eine Mini-Rakete auf einer Startrampe oder ein Gelbrandkäfer. Jedenfalls saugt es meinen Mauszeiger an.
Wenn schon prokrastinieren, dann auch richtig.
Ich klicke, höre, und stecke sofort fest, in einer fantastisch-klebrigen, weil meisterhaft erzählten Story über eine der größten Umweltkatastrophen der Menschheit und eine der vielleicht dreistesten Lügen aller Zeiten.
Es ist mein Thema und es ist genial aufbereitet.
Gute zweieinhalb Stunden später: Ich brauche eine Pause und realisiere erst jetzt vollständig, wie aus Prokrastinieren Recherche geworden ist. Und, dass ich um mindestens drei Gewissheiten reicher bin.
Da ist einmal dieser geniale Einstieg, in dem Dan Leon eine Konversation mit seinem Vater beschreibt, in der er sich fragt, was von der Katastrophe eigentlich übrig geblieben ist, also, welche Erinnerungen. Das Narrativ was die beiden beschreiben: Es war unvorstellbar furchtbar und dann haben die Regierung, der dafür mitverantwortliche Öl-Konzern BP und die Menschen vor Ort gemeinsam gehandelt und das Ganze in den Griff bekommen.
Dann beginnt der Podcast seine Reise zu den Menschen, die die Katastrophe hautnah miterlebt haben, Fischer, Öl-Arbeiter, Menschen aus der Region die von BP dafür angestellt worden sind, Öl-Teppiche zu suchen, zu melden, Öl aufzufangen und dabei immer wieder über eine Strategie sprechen, über ein Bindemittel, mit dem das Öl aufgefangen werden sollte.
Die Illusion von der Beherrschbarkeit der Katastrophe
Bald wird klar: Dieses Narrativ hält nicht, es entpuppt sich als Mythos, als fabrication. Und auch viele Jahre, nachdem BP die letzten Entschädigungszahlungen geleistet hat, zahlen viele Menschen einen hohen Preis, manche mit ihrem Leben.
Hinter der Deepwater-Horizon-Katastrophe stecken Geschichten über Umweltschäden und Artensterben. Einige Dokus sezieren die Sekunden vor der Explosion und schildern, was technisch schief gelaufen ist. Und in der Öffentlichkeit herrscht ein Narrativ vor, dass eine gemeinsame Kraftanstrengung das Schlimmste verhindert hat. Doch das – Spoiler-Alarm – ist nicht haltbar. Dan Leon zeigt das, indem er mit den Menschen spricht, die selbst an der Golf-Küste den Ölschlamm bekämpft haben und eine andere Version der Ereignisse schildern.
PR-Lügen, Gesundheitsschäden und ein Wundermittel mit toxischen Langzeitfolgen
Indem Dan Leon also seine Erinnerung und die seines Vater synchronisiert, schafft er einen Startpunkt für seine investigative Recherche und kann so den Wandel markieren, den er all jenen verschafft, die heute, 15 Jahre später verstehen wollen, was damals wirklich passiert ist. Die neugierig sind, wie Konzerne, Politik und Mainstream-Medien solche Erzählungen erzeugen, die bereitwillig akzeptiert werden obwohl sie unvollständig und falsch sind.
Einen Umweltskandal debunken
Je mehr Menschen wir im Podcast hören, desto stärker wächst der Eindruck: Reputation und Börsenwert waren BP anscheinend immer wichtiger als Umweltschutz und Menschenleben. Und die US-Regierung hat schon bald die Golf-Strände zum Baden freigegeben, hat in der Auseinandersetzung mit BP an vielen Stellen Entschlossenheit vor allem simuliert. Doch der Startpunkt, den Dan Leon wählt, ist seine naive und uninformierte Prämisse vom bewältigten Schrecken.
Drehbuchautor Michael Lewis hat diesen goldenen Tipp für Storyteller: Mind the unusual. Dan Leon beherzigt das und nimmt uns mit auf den Weg, von der für viele komfortablen Lüge, hin zur unangenehmen Wahrheit: Nichts aber auch gar nichts ist gut (zweites Learning).
Und drittens lerne ich, dass Umwege hin und wieder großartige Abkürzungen sein können. Dass Finden unabhängig vom Suchen klappt und dass ich das mit dem Pod-Kastinieren weiter üben möchte.
Dan Leon ist jedenfalls angefragt. Auf die ein oder andere Weise werden er und seine Recherchen Teil des Deepwater-Horizon-Zeitzeichens. Sie werden mir und vielen Hörer:innen Einblick geben, in grundlegende Taktiken des Verschweigens, des Täuschens und Lügens. Taktiken, die auch gerade jetzt weltweit angewendet werden, im Kampf um die Deutungshoheit zwischen Wirtschaftsinteressen und Umweltbelangen.
Das Erzählen davon könnte im besten Fall kleine Wellen schlagen (engl. Ripple), die das Wasser kräuseln, sich ausbreiten und die letztendlich dabei helfen könnten, diese Mechanismen künftig besser zu durchschauen.