Storys helfen Menschen dabei, sich in der Welt zu orientieren, mit Unsicherheiten umzugehen. Neuropsycholog:innen haben herausgefunden, dass Geschichten uns bei der „Kontingenzbewältigung“ helfen, also dabei mit Unsicherheit umzugehen. Und da ist der Bedarf wahrlich groß, in diesen turbulent-chaotisch anmutenden Zeiten, die nach dem Mord an Charlie Kirk (10.09.2025) noch einmal turbulenter und kontingenter wirken.
In unzähligen Artikeln wird seitdem versucht, rational zu vermessen, was hier emotional aufeinanderprallt: Die Witwe vergibt dem Täter, Trump erklärt Minuten später seinen Hass auf seine politischen Gegner und rundherum tobt der Kampf um die Deutungshoheit. Wer schafft es, eine Story anzubieten, die – nach diesem Akt politischer Gewalt – Sinn stiften könnte?
Unter all dem, was seitdem gesagt, geschrieben und gesendet worden ist, sticht für mich ein Satz heraus, der mehr erklärt:
“Something that we liberals have to reckon with is that he, and the people like him, had been winning.”
New-York-Times-Autor Ezra Klein zeigt in einem Interview mit dem New Yorker, wie Charlie Kirk und andere religiös-konservativ-Aufgestellte es in den letzten Jahren verstanden hätten, content zu produzieren, der in unserer „attentional sphere“ funktioniere, der auf Uni-Campussen, in der Gen-Z performe und zwar „very effective“.
Gut gegen Böse
Wer sich diese sehr erfolgreichen Geschichten genauer anschaut, der bemerkt deren unterliegende Werte, die nicht explizit genannt werden müssen um sich zu transportieren. So etwas wie die Grundannahme der eigenen Überlegenheit, etwa gegenüber Andersgläubigen, People of Color oder Politisch-Andersdenkenden. Das schwingt mit, genauso wie das Weltbild, es gebe da ein „Wahres Gutes“ (God, MAGA) auf der einen Seite und auf der anderen ein „Wahres Böses“ (Evil, „Radical Left“).
Factual Storytelling funktioniert nicht mit solchen Kontrasten. Für die Realität, mit ihren Grauschattierungen, ist das zu undifferenziert, zu platt. In einer durch Social-Media-Storytelling bestimmten „attentional sphere“ scheint das der neue Gold-Standard. Die schwarz-weiß Geschichten, von der Dark-Side of Storytelling, scheinen die differenzierteren zu überlagern.
Charlie Kirk hat häufig faktenfrei und immer wieder kreationistisch argumentiert, Donald Trump konnten während seiner ersten Amtszeit 30.000 Lügen nachgewiesen werden, längst ist klar, wie strategisch er sie einsetzt. Diese Faktenfreiheit scheint kein Hindernis, sondern USP für eine neue Art von Storys zu sein. Die Gegenüberstellung von These und Antithese – nachzulesen schon in diesem großartigen Buch von Jonathan Gottshall – wird abgelöst durch Glaube, Loyalität, Zugehörigkeit.
Was heißt das für das politische Ringen um die beste Lösung in einer Demokratie? Was bedeutet das für marginalisierte Gruppen? Wie kann Wissenschaft unter solchen Umständen arbeiten, wenn die Grenze zwischen wahr und falsch ignoriert wird oder zu Gunsten politischer Überzeugungen und dem eigenen Machtzuwachs nach Belieben verschoben wird?
Wahrhaftige Geschichten die differenzieren
Einerseits könnte das alles reichen um einfach zu resignieren. Es könnte aber auch anspornen, die eigenen Perspektiven und Werte zu überprüfen und die eigenen Storytelling-Skills zu schärfen. In einem härter werdenden Wettbewerb setzt sich dann möglicherweise doch handwerkliche Qualität durch. Eine andere Hoffnung hab ich gerade zugegebenermaßen nicht. Mit etwas Glück setzen sich am Ende dann doch wahrhaftige Geschichten durch, die nachhaltig orientieren, indem sie differenzieren statt zu polemisieren.