Wie gut mir „Die Freiheit der anderen“ (Podcast von Hanna Steger und Gabriel Stoukalov, WDR) gefallen hat, steht ja längst hier. Großen Anteil daran hat die Geschichte selbst. Doch wirklich spannend ist ja, was da in Sachen factual Storytelling handwerklich passiert.
3 Zutaten für die Stickyness
In meinen Ohren gibt’s hier drei Prinzipien, die aus dem starken Grundstoff für diese ungewöhnliche Stickyness sorgen. Also dafür, dass ich nach 20 Sekunden unbedingt zwei Minuten hören will und nach zwei Minuten die Folge und – wichtig bei Mehrteilern – dann unbedingt bis zum Schluss.
Punkt 3: Emotionales bonding, oder Tränchen bei Sekunde 48.
Hanna: „Hallo, Ich bin Hanna Steger. Ich bin im Sommer 1984 geboren. Aber die Geschichte, die ich erzählen möchte, die beginnt vorher. Am 1. Januar 1984. Das ist der Tag, an dem meine Eltern zusammen mit meinen beiden älteren Geschwistern aus der DDR geflohen sind. Rübergemacht also.
Die Erzählerin Hanna verknüpft, auch in der Art und Weise, wie offen und warm sie erzählt, die Geschichte ihrer Geburt mit der Geschichte ihrer Familie mit der Geschichte eines der größten politischen Ereignisse des 20. Jahrhunderts. Und sie will, wir wollen mehr wissen. Im nächsten Moment sind wir bei der Person, die mehr weiß, die uns hier helfen kann: Mutter, aka Muze (hoffentlich richtig geschrieben).
Mutter: Du musst wirklich dieses Ziel verfolgen und muss sagen: „Ich will das und ich schaff das.“
Relevanz (persönlich, gesellschaftlich), große Nähe und Intimität (ich sitze am Familientisch). Als die Mutter erzählt, dass sie ganz klar ihr Ziel vor den Augen, folgt eine Assoziation, sie beginnt zu singen.
Ich weiß als Hörer:in noch nicht genau, worum es geht, ich kenne die Personen ja noch gar nicht und bin (kognitiv) längst nicht so weit, mich auf das alles einzulassen; eigentlich. Doch mein Bauch ist es.
Der Moment irritiert mich erst in seiner Offenheit und dann entwaffnet er. Gerade beim Abhören bekomme ich schon wieder ein Tränchen ins Auge.
Punkt 2: Dichte durch Schneider-Stil plus Pausen.
Kurze Sätze, keine Verschachtelungen. Ich dachte beim Hören an einigen Stellen an Wolf Schneider, der Zeit ja seines Lebens für sprachliche Prägnanz und Klarheit gekämpft hat. Berühmtes Zitat: „Einer muss sich quälen, entweder der Schreiber oder der Leser.“ Daraus ableiten läßt sich dann ein Danke an Macherin und Macher, weil mir das Hören super leicht fällt.
Und dann bekomme ich auch noch Pausen, zum Verdauen und um eigene Erfahrungen anzuknüpfen und zu integrieren. Hörphysiologisch gut.
Punkt 1: Statt Folgen-Versprechen –> Folgen-Verheißung
Natürlich ist die größte Challenge des Mehrteilers der Übergang von Folge 1 auf Folge 2. Eine Art Klippe, an der du zerschellen kannst, wenn du zu wenig versprichst. Und natürlich auch, wenn zu viel versprichst.
Aktuell gibts einige Produktionen, in denen die Macher:innen eben der Versuchung erliegen und eine „Folgenversprechen-Auf-Die-12-Methode“ anwenden. Das bewegt sich zwischen werblich und marktschreierisch und folgt dem Prinzip: Hast du was, dann kündige es an, wieder und wieder, bis auch die oder der Letzte verstanden hat, was gleich kommt.
Bei aller Liebe zum Produkt: „Cui Bono: WTF happened to Ken Jebsen?“ nutzt diese werblich-invasive Ankündigungsmethode. Richtig schlimm überziehen hier „Faking Hitler“ (Stern) und „Wo ist Lars“ (RTL+).
Wer alle fiesen Formen dieses inflationären „Möhre an der Angel Teasings“ auf einmal kennenlernen will: Einfach Caro Worbs und Miguel Robitzky anhören, wie sie diese Narrativen Taschenspieler-Tricks persiflieren: too many tabs Sonderedition „der fall gracia“ (NDR). Absolut hörenswert. Danke dafür!
Wenn Hanna Steger und Gabriel Stoukalov diesem Muster oben folgen würden, klänge das Ende von Folge 1 vielleicht so: „Was passiert, als die Stegers ihr Familiennarrativ nach so langer Zeit diskutieren, das hört ihr…“. Das würde wenig wirken und viel von der intimen Stimmung zerstören.
Gut, dass die Beiden das so lösen:
Bruder: Tatsächlich habe ich den mehr ausgespart. Ja, tatsächlich finde ich unseren Teil der Fluchtgeschichte so glorreich, dass die Verlierer kein Platz haben, nein, (lacht) das ist sehr hart ausgedrückt. Aber, ja, tatsächlich habe ich mir darüber wenig Gedanken gemacht und hab den einfach ausgeblendet.
Hanna: Aber wir zum Beispiel haben ja auch noch nie über die Flucht geredet.
Mutter: Richtig. ja. Findste das schade?
Hanna: Ich wundere mich einfach darüber. Eigentlich so ein bisschen.
Alles was hier kommt, ist ein Angebot, sich mit Hanna zusammen diesem Wunder-Impuls zu folgen. Weil hier selbstbewusst und sauber über die erste Folge erzählt worden ist, kann die Teasing-Angel im Schrank bleiben. Im Hintergrund ist da natürlich ein Versprechen. Der Anreiz hier: genau hinzuhören, wohin die Reise geht. Belohnt wird, wer auf die Nuancen achtet. Richtig stark und verheißungsvoll funktioniert das das Versprechen hier, weil es nur angedeutet ist.